Diese verdammten 9,9 Sekunden - Erinnerungen an Roy 11FREUNDE

Um das Ausma dieses Monuments zu begreifen, reichen zwei Wahrnehmungen. Die eine behandelt den ruhigen Gesellen Roy Makaay, der etwas fr ihn komplett Weltfremdes veranstaltet: Er rutscht auf Knien ber den Rasen. Zeitgleich wird ein gigantischer emotionaler Erdrutsch freigesetzt, und die Allianz Arena, die ja immer ein bisschen brsig und elitr wirkt, wie ein BWL-Student

Um das Ausmaß dieses Monu­ments zu begreifen, rei­chen zwei Wahr­neh­mungen. Die eine behan­delt den ruhigen Gesellen Roy Makaay, der etwas für ihn kom­plett Welt­fremdes ver­an­staltet: Er rutscht auf Knien über den Rasen. Zeit­gleich wird ein gigan­ti­scher emo­tio­naler Erd­rutsch frei­ge­setzt, und die Allianz Arena, die ja immer ein biss­chen bräsig und elitär wirkt, wie ein BWL-Stu­dent mit rei­chen Eltern, der es nicht nötig hat, ehr­liche Arbeit abzu­lie­fern – dieses Sta­dion geht aus sich heraus, als wäre es ein Teen­ager bei seinem ersten Alkohol-Absturz in der Dorf­disco.

Epi­zen­trum der Ekstase

Der Teen­ager weiß nicht, was er mal als Halb­starker erlebt, in sechs Jahren zum Bei­spiel, wenn der FC Bayern den FC Bar­ce­lona 4:0 zer­pflü­cken wird, oder wei­tere zwei­ein­halb Jahre darauf, wenn ein Bayern-Angreifer fünf Tore in neun Minuten schießen soll. Alle­samt übri­gens aufs exakt selbe Alu­mi­ni­um­ge­stänge, das Makaay auf Knien rut­schen und die BWL-Arena zum Epi­zen­trum der Ekstase mutieren lässt.

Weil die Nummer zehn nach zehn Sekunden trifft. Am 7. März 2007, heute vor zehn Jahren.

Schwein­steiger glaubt noch, dass er Flü­gel­spieler ist

Cham­pions League, Ach­tel­final-Rück­spiel. Vor zwei Wochen hat Bayern bei Real Madrid mit 2:3 ver­loren, in der Bun­des­liga läuft es schlecht, seit Anfang Februar ist Ottmar Hitz­feld wieder Trainer.

Fürs erneute Duell mit den König­li­chen“, deren Glanz zu Mitte des Jahr­zehnts doch arg aus­bleicht, nomi­niert Hitz­feld fol­gendes Team: Oliver Kahn, Willy Sagnol, Lucio, Daniel van Buyten, Philipp Lahm (jaja), Mark van Bommel, Owen Har­gre­aves, Hasan Sali­ha­midzic und Bas­tian Schwein­steiger, der damals noch glaubt oder glauben soll, ein Flü­gel­spieler zu sein. Die Dop­pel­spitze im 4–4‑2-System (welch ver­krus­tete Fuß­ball­epoche!) bilden Makaay und Lukas Podolski.

Real-Coach Fabio Capello ent­scheidet sich für Iker Cas­illas, Miguel Torres, Iván Hel­guera, Sergio Ramos (20, wie süß), Roberto Carlos, Maha­madou Diarra, Fer­nando Gago, den frü­heren Lever­ku­sener Emerson, den spä­teren Schalker Raúl, Ruud van Nis­tel­rooy und eine 19-jäh­rige Sturm­hoff­nung namens Gon­zalo Higuaín.

1. Sekunde
Vor­glühen. In der Arena schwenken sie 60.000 rot-weiße Fähn­chen, und die Fans into­nieren den alten Steht-auf-wenn-ihr-Bayern-seid-Schlacht­song, der seine Stoß­rich­tung pünkt­lich mit Madrids Anstoß zu einem Kon­zert der Pfeifer und Schmäher trans­for­miert. Higuaín passt zu van Nis­tel­rooy, dieser zurück auf Gago. Zwei Tage vor seinem 32. Geburtstag läuft Makaay den Argen­ti­nier an. Naja, gut: Er trabt. Bloß keine Kräfte ver­schleu­dern.

Wir waren uns einig, dass wir in den ersten zehn Minuten voll Druck machen würden, um viel­leicht ein frühes Tor zu machen“, sagt Makaay später zu uefa​.com“. Weniger schnell funk­tio­niert die Abwick­lung seines Trans­fers von Depor­tivo La Coruña zu Bayern, im Sommer 2003 braucht‘s Geduld und Geschick. Am fünften Tag tauchte Uli Hoeneß beim Früh­stück auf: Roy, pack deine Sachen, heute wird trai­niert‘“, verrät Makaay im 11FREUNDE-Inter­view. (Hier geht’s zum Inter­view »>) Mit knapp 19 Mil­lionen Euro ist er Bayern teu­erster Ein­kauf über­haupt. Merke: ver­krus­tete Fuß­ball­epoche.

2. Sekunde
Gago nimmt van Nis­tel­rooys Zuspiel mit rechts an, ver­harrt kurz, indem er auf die Kugel steigt, ver­la­gert sein Gewicht zur Linken und passt quer auf Roberto Carlos, der 33 ist, aber nach wie vor als einer der besten Links­ver­tei­diger gilt. Makaay läuft einen Schlenker, weg von Gago, hin zu Carlos. Pardon: Er trabt. Und Sali­ha­midzic? Ist ein Bayer aus Bos­nien.

Als 18-Jäh­riger debü­tiert Rudolphus Anton Roy“ Makaay in der Ere­di­visie bei Vitesse Arn­heim, wohin er 1993 wech­selt. Dann: Spa­nien, zunächst 1997 zu CD Tene­riffa (Trieb­feder ist Jupp Heyn­ckes) und 1999 nach La Coruña, wo er 2000 spa­ni­scher Meister wird und 2003 den Gol­denen Schuh als erfolg­reichster Tor­schütze Europas erhält.

3. Sekunde
Wäh­rend Carlos das Gago-Päss­chen anzu­nehmen gedenkt, sagt Fern­seh­kom­men­tator Fritz von Thurn und Taxis: Die Spa­nier sind in Ball­be­sitz.“ Nicht im TV: Wie Sali­ha­midzic seinem ewigen Wider­sa­cher Carlos mit Laser­blick den mani­pu­lie­renden Gedanken inji­ziert, er, der 2002er Welt­meister, könne nicht einmal ein Gago-Päss­chen (wer ist Gago!?) über fünf Meter kon­trol­lieren. So muss es gewesen sein. So und nicht anders.

Makaays Kar­riere hat den Makel, in der Natio­nal­mann­schaft (43 Ein­sätze, sechs Tore) recht farblos zu bleiben. Über seinen Tief­punkt sagt er: Sicher­lich meine Ver­let­zung wäh­rend der Euro­pa­meis­ter­schaft 2000 im eigenen Land. Es pas­sierte im Trai­ning vor dem Halb­fi­nale gegen Ita­lien, in meinem rechten Knö­chel war alles kaputt. Sie brachten mich ins Kran­ken­haus gleich neben der Ams­terdam Arena. Ich sagte dem Arzt: Gebt mir bitte kein Zimmer mit Aus­blick auf das Sta­dion!‘ Man ver­legte mich auf die andere Seite der Klinik, dort ver­folgte ich das Spiel mit meiner Frau. Wir schieden aus. Nach Elf­me­ter­schießen. Eigent­lich hatte ich mir fest vor­ge­nommen, beim End­spiel auf der Bank zu sitzen und den Titel zu feiern.“

4. Sekunde
Roberto Carlos ist so ver­un­si­chert, dass er für einen Moment seine bra­si­lia­ni­sche Her­kunft ver­leugnet. Ein Stock­fehler, plumper als bei einem Ama­teur (okay, gleich plump), der Ball hop­pelt vom Fuß. Bay­erns Bos­nier Sali­ha­midzic ist immer noch weit ent­fernt. Aber Brazzo näch­tigt ja nicht umsonst mit Finger in der Steck­dose, wie Stefan Effen­berg einst unkt.

Im Grunde ändert Makaay nie etwas an seiner Art des Fuß­ball­spiels. Wie ein Geis­tes­ab­we­sender schleicht er zuweilen über das Feld, gesegnet mit der Gabe, just jene Bereiche zu meiden, in denen das Spiel­gerät zir­ku­lieren könnte. Es ist paradox, wie fix er vom Stand-by-Modus in Auf­nah­me­be­reit­schaft schalten, erwa­chen und explo­dieren kann. Antritt. Schuss. Tor. Trainer Hitz­feld attes­tiert ihm etwas seltsam Apa­thi­sches“ und fühlt sich mehr als einmal bemü­ßigt, wäh­rend des Übungs­kicks ermah­nend ein­zu­schreiten: Schneller bitte Roy, du schläfst noch ein…“

5. Sekunde
Die Pointe dieses Kurz­films, dra­ma­tur­gisch im Mit­tel­teil loka­li­siert. Sali­ha­midzic erfasst die Situa­tion, schnippt den Finger aus der Steck­dose, flinker Antritt, cle­verer Kör­per­ein­satz, ein Kon­takt mit dem linken Fuß durch Carlos‘ Beine, logisch, Glück gehört dazu. Par­allel befolgt Makaay den hitzfeld‘schen Befehl: schneller bitte! Er startet in die Tiefe. Die BWL-Arena legt vor­sorg­lich den Auto­schlüssel auf die Uni­bank – mit Mar­ken­logo nach oben.

Der Stürmer wird Phantom“ getauft, in einer Kreu­zung aus Ehr­furcht und Erstaunen. Letz­teres teilt er irgendwie selbst: Dann kam der Ball, und meis­tens stand ich exakt da, wo ich eigent­lich nicht hätte stehen sollen. Und habe das Tor gemacht.“ Zu erlernen ist das nicht, eher zu ver­fei­nern. Instinkt halt. Aber Phantom? Im Nach­hinein finde ich diese Beur­tei­lung etwas unge­recht“, sagt Makaay. Ein Phantom, das nur auf seinen eigenen Erfolg lauert, ist nicht so unei­gen­nützig.“ Was er meint: Ich habe immer viele Vor­lagen zu Toren gegeben, 2004/05 war ich mit 14 Assists sogar bester Vor­be­reiter der Bun­des­liga.“ Nett auch die Anek­dote, als er Imi­tate des Gol­denen Schuhs anfer­tigen lässt, für jeden Kol­legen von Depor­tivo eine. Makaay, der höf­liche Killer.

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